Evolutionsrate von Wiederkäuern anhand ihrer Innenohren nachgezeichnet

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Naturhistorisches Museum Basel / Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie

Ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Naturhistorischen Museum Basel dokumentiert mit einem neuartigen Ansatz Evolutionsschritte und -tempo der Wiederkäuer während der letzten 35 Millionen Jahre, die zu ihrer heutigen Biodiversität geführt haben. Die Untersuchungen des tief im Schädel versteckten knöchernen Labyrinths des Innenohrs von rund 200 lebenden und ausgestorbenen Wiederkäuerarten belegen die Entstehung der verschiedenen Evolutionslinien. Klimatische und großgeographische Ereignisse waren offenbar der Motor für Diversifizierungsereignisse, die zur heutigen Vielfalt der Wiederkäuer geführt haben. An der Studie beteiligt war auch SNSB-Paläontologin Gertrud Rößner.

In acht Jahren wurden am Naturhistorischen Museum Basel Mikro-CT-Daten vom Innenohr ausgestorbener und lebender Wiederkäuerarten von mehreren hundert Schädeln aus der ganzen Welt zusammengetragen. Von diesen Hohlraumstrukturen fertigten die Paläontologen Bastien Mennecart und Loïc Costeur hochaufgelöste virtuelle 3D-Modelle an und berechneten mit statistischen Methoden die Variabilität ihrer Form in Raum und Zeit. Die Münchner Paläontologin Gertrud Rößner von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) beteiligte sich an der Studie mit der Erstellung von Computertomographien zu ca. 20 Arten. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden nun in der renommierten Zeitschrift NATURE COMMUNICATIONS veröffentlicht.

Das knöcherne Labyrinth des Innenohrs, gleichzeitig Hör- und Gleichgewichtsorgan, wird aufgrund seiner artspezifischen Form seit langem zur Rekonstruktion der Evolution und Verwandtschaftsverhältnisse der Säugetiere verwendet. So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass die spiralförmig aufgerollte Gehörschnecke schon vor rund 150 Millionen Jahren entstanden ist. Die neue Studie umfasst das bisher umfangreichste Datenset zum Innenohr einer Säugetiergruppe und erlaubt daher einen besonders detaillierten Einblick in die Formenvielfalt dieser komplexen Struktur. Damit war zum Beispiel die eindeutige verwandtschaftliche Zuordnung einer Ur-Giraffe möglich.

Anders als andere Organe, eignet sich das Innenohr besonders gut Entwicklungsschritte zu rekonstruieren und als Gradmesser für die Evolution der Säugetiere zu verwenden. So konnten die Forscher*innen zeigen, dass Diversifizierungsschübe in der Form der Innenohren der Wiederkäuer über eine Zeitspanne von 35 Millionen Jahren in Wechselbeziehung mit Klima und der Besiedlung neuer Landmassen standen. So zeigen die Ergebnisse, dass die Giraffen in Zeiten mit warmem Klima prosperierten und in der Vergangenheit eine höhere Evolutionsrate hatten als heute. Wohingegen sich die Hornträger und Hirsche in kühlerem Klima erfolgreicher entwickelten. Infolge entstand die Biodiversität der Wiederkäuer, wie wir sie heute kennen.

Auch großgeographische Veränderungen in der Verteilung der Landmassen auf der Erde spielte eine ebenso große Rolle. So konnten vor rund drei Millionen Jahren Mitglieder der Familie der Hirsche von Nordamerika nach Südamerika einwandern, da sich zwischen diesen beiden Kontinenten eine Landbrücke gebildet hatte. Die Tiere mussten sich auf dem neu besiedelten Erdteil an viele neue Lebensräume anpassen. In der Folge entwickelten sich dort rasch viele neue Arten, was sich eindrücklich in der Evolution der Innenohrformen manifestierte. Gegenwärtig leben rund 19 verschiedene Hirscharten in Südamerika, was einem guten Drittel aller bekannter Arten innerhalb der Familie entspricht.

In der modernen Welt bilden Wiederkäuer (Antilopen, Rinder, Hirsche, Giraffen, Gabelböcke, Moschustiere und Hirschferkel) mit ca. 300 Arten die vielfältigste Gruppe unter den pflanzenfressenden Großsäugetieren. Sie besiedeln nahezu alle festländischen Habitate von Hochgebirgen bis zu Küsten und von den Tropen bis zur Arktis. Daher eignen sie sich besonders gut für die Erforschung von Mechanismen und Prozessen der Evolution. Heute stehen fast die Hälfte aller nach 35 Millionen Jahren Evolution entstandenen Wiederkäuerarten auf der roten Liste der gefährdeten Arten. Der Einfluss des Menschen auf den Fortbestand der Arten ist augenfällig, wie der 2022 vom WWF veröffentlichte Bericht «Living Planet Report» verdeutlichte.  Dieses Erbe verpflichtet uns zu verstärkten Bemühungen für Schutz und Erhalt dieser Säugergruppe.

Publikation

Mennecart, B., Dziomber, L., Aiglstorfer, M. et al. Ruminant inner ear shape records 35 million years of neutral evolution. Nat Commun 13, 7222 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-34656-0

Kontakt

PD Dr. Gertrud Rößner
Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie
Richard-Wagner-Str. 10, 80333 München
Tel: 089 2180 6609
E-Mail: roessner@snsb.de