September 2013: Urtümlicher Wiederkäuer
Hypertragulus calcaratus
Alter ca. 32 Millionen Jahre (Oligozän)
Shannon County, South Dakota, USA
Länge 10 cm
Wiederkäuer gehören zu den Paarhufern (Säugetiere mit einer geraden Anzahl an Zehen) und bilden mit über 300 Arten die vielfältigsten und, gemessen an ihrer Individuenzahl (ca. 3 Milliarden) und Verbreitung über alle Kontinente außer der Antarktis, erfolgreichsten Großsäugetiere der Gegenwart. Mit Vertretern so unterschiedlich wie das Rind, die Savannengiraffe, der Elch, der Gabelbock, das Moschustier oder der Kleinkantschil besiedeln sie als native Organismen nahezu alle festländischen Lebensräume mit einer immensen ökologischen Bedeutung. Sie verfügen über eine faszinierende Spannbreite physiologischer, anatomischer und verhaltensbiologischer Anpassungen. Diese Diversifizierung fand ab dem Untermiozän (vor ca. 20 Millionen Jahren) statt und ist die jüngste innerhalb der Wiederkäuer. Im Laufe deren Entwicklungsgeschichte fanden wiederholt Radiationen (im Eozän, im Oligozän und im Miozän) statt, die zu den bemerkenswertesten Ereignissen der jüngeren Erdgeschichte zählen. Der Ursprung der Wiederkäuer wird auf 55 Millionen Jahre vor heute geschätzt, ab 43 Millionen Jahren ist deren Evolution sehr gut durch Fossilien belegt. Die überlieferte Abfolge von Radiations- und Aussterbephasen macht die Wiederkäuer zu einer idealen Gruppe für die Untersuchung vieler evolutiver Mechanismen, wie die natürlichen Auslese und die Artentstehung, und zum Lehrbuchbeispiel für adaptive Radiationen.
Eine der ältesten Wiederkäuergruppen, die wir kennen, sind die ausgestorbenen Hypertraguliden. Sie lebten ausschließlich in Nordamerika über einen Zeitraum von über 20 Millionen Jahren vom Eozän bis zum frühen Miozän. Das Fossil des Monats September 2013 ist ein nahezu vollständiger Schädel mit dazugehörigem Unterkiefer der namengebenden Gattung Hypertragulus. Er ähnelt nicht gerade dem Erscheinungsbild einer Kuh oder einer Antilope und demonstriert damit sehr schön die Veränderungen, die im Laufe der Evolution der Wiederkäuer stattgefunden haben. Besonders auffallend in diesem Zusammenhang sind die fehlenden Schädelfortsätze (Hörner, Geweihe), die großen Augenhöhlen und die eher kurze dünne Schnauze mit den spitzen Vorbackenzähnen. Doch die Form der Backenzähne in Verbindung mit fehlenden oberen Schneidezähnen und direkt an die unteren Schneidezähne angelagerte untere Eckzähne kennzeichnen ihn eindeutig als Wiederkäuer. Die Abstände zwischen den Vorbackenzähnen und die hauerförmigen ersten Vorbackenzähne unten repräsentieren wiederum fortschrittliche Merkmale unter den Hypertraguliden.
Hypertraguliden waren allgemein vergleichsweise kleinwüchsige Wiederkäuer, die vermutlich nicht einmal die Größe der modernen afrikanischen Zwergantilopen (Dikdik) erreichten. Der ausgestellte Hypertragulus dürfte mit einer Körperlänge von nicht mehr als 40 cm, einer Schulterhöhe von nicht mehr als 20 cm und einem Körpergewicht von weniger als einem Kilogramm sogar noch etwas kleiner gewesen sein. Die gesamte Gruppe entstammte einer Radiation die nahe dem Ursprung der Wiederkäuer im Eozän stattgefunden und eine Vielfalt an weiteren Gruppen urtümlicher Wiederkäuer in Nordamerika und Eurasien hervorgebracht hat, wovon sich letztlich die modernen Gruppen abgespalten haben. Alle diese frühen Formen besaßen im Gegensatz zu den nur zwei funktionsfähigen Zehen der heutigen Wiederkäuer noch vier, Hypertragulus sogar fünf, einsetzbare Zehen. Eine Ausnahme unter den heutigen Formen bilden die hornlosen Traguliden (Hirschferkel), die in vieler Hinsicht den frühen Wiederkäuern aus dem Eozän und Oligozän gleichen und deshalb auch als nächste lebende Verwandten der Hypertraguliden angesehen werden.
Hypertragulus-Fossilien sind häufige Funde in paläogenen Gesteinen im Westen Nordamerikas. Deshalb ist sowohl der Lebensraum, als auch das gesamte Skelett gut bekannt und bietet die Möglichkeit zur Rekonstruktion der Tiere sowie Rückschlüsse auf deren Paläobiologie. Sie waren an bewaldete Lebensräume angepasst und ernährten sich von Früchten und Blättern sowie möglicherweise auch von Insekten.
Mit zunehmender klimatischer Veränderung im Laufe des Känozoikums breiteten sich offenere Lebensräume aus und die Nahrungsquellen veränderten sich hin zu mehr Grasnahrung. Diesen Voraussetzungen passten sich die Wiederkäuer in mehreren Radiationen an und entwickelten hochspezialisiertes Sozial-, Flucht- und Fraßverhalten, was sich auch in anatomischen Merkmalen wie Bildung von Schädelfortsätzen, hochkronigen Zähnen, komplexen Verdauungssystemen und langen zwei-zehigen Extremitäten der modernen Vertreter niederschlug. Die Hirschferkel überlebten als einzige Vertreter der frühen Wiederkäuer und leben heute in tropischen Reliktarealen in Afrika und Südostasien.
G. E. Rössner