Juni 2013: Rätselhafte “Ur-Landpflanze”
Orestovia devonica Ergolskaya
Unter-/Mitteldevon (ca. 400 Millionen Jahre)
Kuznetsk Becken, Westsibirien
Länge der einzelnen Teile: bis zu 30 cm
Als Kinder haben wir manchmal buntes Herbstlaub gesammelt, die Blätter gepresst und getrocknet, und aus diesen dann Bilder geklebt. Dies kann man auch mit Pflanzenfossilien machen – das Fossil des Monats Juni stellt genau so ein Bild aus getrockneten und gepressten, etwa 400 Millionen Jahre alten Pflanzenfossilien dar: Aus mehreren Achsen von Orestovia devonica Ergolskaya aus dem Unter-/Mitteldevon Sibiriens ist das hier gezeigte Lebensbild einer sehr urtümlich anmutenden, blattlosen „Ur-Landpflanze“ zusammengebastelt worden; bei der Zusammenstellung des Bildes standen ganz offensichtlich verschiedene Rekonstruktionen früher Landpflanzen aus dem 19. Jahrhundert Pate. Etwas erinnert die Darstellung allerdings auch an einen stark überdimensionierten Pillenfarn (Pilularia globulifera L.).
Aber was eigentlich ist Orestovia devonica? Aus dem Unter- und Mitteldevon sind von mehreren Fundpunkten rätselhafte Pflanzenreste bekannt, die man nicht so ohne Weiteres einer bestimmten Pflanzengruppe im System der lebenden und fossilen Pflanzen zuordnen kann. Diese eigenartigen Pflanzen stehen irgendwo in der Entwicklungslinie vom Leben im Wasser zum Leben auf dem Festland, also irgendwo zwischen den Landpflanzen und ihren algenähnlichen Vorfahren. Aber wo genau sie in diese Linie einzuordnen sind und welche ihre Bedeutung für die weitere Evolution der Landpflanzen war, ist unbekannt. Zu diesen rätselhaften „Ur-Landpflanzen“ gehört auch O. devonica. Die Pflanze kommt in Schichten des Unter-/Mitteldevons vor, die entlang dem Fluss Barzas (Kuznetsk Becken) in Westsibirien aufgeschlossen sind. In einigen Bereichen sind die Reste sogar so häufig, dass sie eine so genannte „paper coal“ (Papierkohle) bilden, die fast ausschließlich aus O. devonica besteht. Die Pflanzenreste liegen in dieser paper coal in Kutikulaerhaltung vor, d.h. die von den blattlosen Achsen der Pflanzen gebildete Kutikula, ein äußerer Überzug aus resistenten Substanzen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinflüsse, ist noch erhalten, während die Zellen bzw. Gewebe nicht mehr vorhanden sind. Unser Fossil des Monats besteht also aus gepressten und getrockneten, schlauchartigen Gebilden, bestehend aus der Kutikula oder Kutikula-artigen äußeren Schutzschicht der Pflanze.
Den rätselhaften Pflanzen des Devons hat immer eine besondere Aufmerksamkeit der paläobotanischen Forschung gegolten, und viele Hypothesen zur Natur und zu den verwandtschaftlichen Beziehungen dieser Pflanzen sind im Laufe der Zeit vorgestellt worden. Orestovia devonica ist ursprünglich zu den Algen (vor allem Braunalgen) gestellt worden. Und tatsächlich haben chemische Untersuchungen an den Fossilien ergeben, dass einige, für Landpflanzen typische Substanzen nicht vorhanden sind. Andere Paläobotaniker sehen in O. devonica eher eine Übergangsform zwischen den Landpflanzen und ihren algenartigen Vorfahren. Ein wesentliches Argument für die Zugehörigkeit von O. devonica zu den Landpflanzen ist das Vorkommen von Spaltöffnungen (Stomata) auf den blattlosen Achsen. Spaltöffnungen, die zum Gasaustausch und zur kontrollierten Transpiration (Wasserabgabe) dienen, findet man bei Algen nicht. Darüber hinaus haben sich im Inneren mancher O. devonica Fossilien feine ring- und spiralverstärkte Röhren erhalten, die eventuell mit den wasserleitenden Zellen (Tracheiden) höherer Landpflanzen vergleichbar sind.
Das hier als Fossil des Monats gezeigte Lebensbild von Orestovia devonica ist nach den Vorstellungen seines (unbekannten) Erschaffers zusammengestellt worden, und zeigt ein mögliches Aussehen der Pflanze. Ob O. devonica allerdings wirklich so gewachsen ist, bleibt unklar. Die Kutikulaerhaltung der blattlosen Achsen ist bislang die einzige Überlieferungsform von O. devonica. Ob die gesamte Pflanze nur aus solchen Achsen bestand, oder ob sie oberirdische, aufrecht stehende Achsen an kriechenden Untergrundorganen (Rhizome) ausgebildet hat, die nicht erhalten sind, wissen wir nicht.
M. K.