Dezember 2012: Giraffenzahn aus der Kattwinkel-Kollektion
BSPG1911 VI 9
Sivatherium maurusium
Alter ca. 1,8 Millionen Jahre (Altpleistozän)
Oldoway (Tansania)
Länge 47 mm, Breite 47 mm
Die Fossilien der Oldoway-Schlucht in Tansania sind weltberühmt. Grund dafür sind die primitiven Steinwerkzeuge und Skelettreste der Hominiden Paranthropus boisei, Homo habilis und Homo erectus, die Louis Leakey, der wohl bekannteste Urmenschen-Forscher, während seiner jahrzehntelangen Tätigkeit dort gefunden hat. Doch schon lange bevor Leakey seine intensiven Arbeiten begann, wurden die ersten Fossilfunde in der Oldoway-Schlucht gemacht. Diese Fossilien der sogenannten Kattwinkel-Kollektion, zu welchen auch der ausgestellte Giraffenzahn zählt, werden hier in der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie aufbewahrt. Sie beeinflussten maßgeblich die Erforschungsgeschichte der Oldoway-Schlucht.
Der Finder war Wilhelm Kattwinkel (1866 -1935), ein Münchner Professor für Neurologie, der großes Interesse an der Paläontologie hatte. Von 1910 bis 1911 unternahm er gemeinsam mit seiner Frau eine Reise nach Deutsch-Ostafrika zur Erforschung der Schlafkrankheit. Auf einem Jagdausflug im Norden Tansanias entdeckte er die Oldoway-Schlucht und deren Reichtum an Fossilien. Aufgesammelte Knochen und Zähne übergab er nach seiner Rückkehr nach München der Bayerischen Staatssammlung, wo sie als Überreste von Elefanten, dreizehigen Pferden, Flusspferden und kurzhalsigen sivatheriinen Giraffen identifiziert wurden.
Durch die vielversprechenden Funde angeregt, unternahm Hans Reck vom Institut für Geologie und Paläontologie der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin 1913 eine wissenschaftliche Expedition in die Oldoway-Schlucht. Die reiche Ausbeute an Knochen und Zähnen von Säugetieren wurde zwischen dem Berliner Institut und der Bayerischen Staatssammlung aufgeteilt. Gegen Ende der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts nahm Leakey den Kontakt zu Reck auf und von 1931 bis 1932 fand eine weitere Expedition statt, auf der Louis Leakey Oldoway kennenlernte.
Der ausgestellte Giraffenzahn saß vor fast 2 Millionen Jahren im Oberkiefer eines Sivatherium. Die Sivatherien waren Giraffen mit kurzen Hälsen und vergleichsweise kurzen Beinen, die in Südasien und Afrika verbreitet waren. Ihre Fossilien stammen aus dem späten Miozän, Pliozän und frühen Pleistozän. Ihre Statur glich der eines heutigen Elchs, erreichte aber mit drei Metern eine deutlich größere Schulterhöhe. Wie die heutigen Giraffen trugen sie knöcherne Auswüchse auf ihren Schädeln, allerdings vier anstelle von zwei oder drei. Ein Paar kurzer Fortsätze saß über den Augen und ein zweites, geweihähnlich-verzweigtes Paar zierte den Hinterkopf.
Am Zahn sind ein Teil der Zahnwurzel sowie die stark abgekaute Zahnkrone mit glatt geschliffener Kaufläche zu erkennen. Die vier halbmondförmigen Zahnkronenelemente sind von einer dünnen weißlichen Schmelzschicht umgeben, die äußerlich Runzelungen zeigt. Die inneren gelbbraun gefärbten Anteile bestehen aus Zahnbein, einer knochenähnlichen Substanz, die auch die Zahnwurzel aufbaut. Der fortgeschrittene Abkauungsgrad des Zahnes dokumentiert ein hohes Individualalter. Die quer über beide Zahnhälften verlaufenden Facettenkanten sind ein Überbleibsel der überwiegend seitlichen Kaubewegung dieses Blätterfressers. Ober- und Unterkieferzähne haben sich im Laufe des Giraffenlebens perfekt aufeinander eingeschliffen und glitten mit Hilfe dieser „Führungskanten“ übereinander hinweg.
Aufgrund von 8.000 Jahre alten Felszeichnungen in der Sahara, deren Umrisse zum Teil sivatheriinen Giraffen ähneln, hält man sogar ein Überleben dieser Tiere bis zu Beginn des Holozän (Grenzbereich Mittel- / Jungsteinzeit) für wahrscheinlich.
G. Rößner