November 2014: Geweih eines Ur-Hirsches
Procervulus praelucidus
(Obergfell, 1957)
Alter: ca. 19 Millionen Jahre (Miozän)
Wintershof-West b. Eichstätt, Oberbayern
Höhe: 14 cm
SNSB-BSPG 1937 II 16481
Geweihe sind einzigartige Organe und der unverkennbare, paarige Kopfschmuck der männlichen Hirsche, zu welchen im wissenschaftlichen Sinne alles vom asiatischen Muntjak, über Reh- und Damwild, Rothirsch, Rentier, Elch, bis hin zu den südamerikanischen Zwerghirschen zählt. Nicht nur ihre in der Regel stark verzweigte Struktur, sondern auch ihr Lebenszyklus, bestehend aus Abwurf und Neubildung, machen die Geweihe so bemerkenswert. Die Hirsche der gemäßigten Breiten wechseln ihr Geweih einmal jährlich im Rhythmus der Jahreszeiten, wobei Größe und Gewicht zunehmen. Auf diese Weise kann ein Hirsch 20 Geweihpaare im Laufe seines Lebens bilden. Mit bis zu eineinhalb Meter Länge erreichen manche Geweihe enorme Ausmaße und Höchstwerte in der Wachstumsgeschwindigkeit von bis zu 4 mm in der Stunde – ein Rekord in der Tierwelt. Das Geweih wächst aus einem Sockel auf dem Stirnknochen und besteht ebenfalls aus Knochen, der während des Wachstums von einer samtartigen Haut umhüllt ist. Nach Abschluss des Wachstums wird die Haut abgestoßen und das Geweih dient dann sowohl als Waffe als auch als Schauorgan im innerartlichen Verhalten.
Die Evolution der Hirsche und ihrer Geweihe ist mit vielen Fossilen gut belegt. Das Fossil des Monats November ist eine Kostbarkeit unter den fossilen Geweihen: mit 19 Millionen Jahren ist es eines der ältesten Geweihe, die man weltweit kennt. Es stammt aus einer frühen Entwicklungslinie der Hirsche und demonstriert sehr gut einen einfachen Entwicklungsstand im Vergleich zu den heutigen, teilweise hoch komplexen Geweihen. Neben der geringen Größe zeigt es eine nur einfach gegabelte Spitze und sitzt auf einem sehr hohen, schlanken Sockel, dessen oberes Ende nicht durch eine Rose (knöcherne, ringförmige Struktur an der Basis heutiger Geweihe) markiert ist. Der Sockel entsprang dem Stirnbein. Allerdings nicht wie bei den heutigen Hirschen hinter der Augenhöhle, sondern er saß an deren äußerstem Rand und ragte senkrecht in die Höhe im Gegensatz zu den nach hinten geneigten heutigen Geweihästen. Geweihabwurf fand damals schon statt, wie uns andere Fossilien des gleichen Hirsches verraten, wohl aber eher selten. Auslöser dürften auch, wie heute, Veränderungen im Hormonspiegel gewesen sein. Allerdings lebte Procervulus (lat.: Urhirschlein) in einer Zeit mit wenig ausgeprägten Jahreszeiten und deutlich höheren Temperaturen als heute. Damit ist sicher, dass der Geweihzyklus zwar noch keinem ausgeprägten Rhythmus folgte, aber dessen fundamentaler Mechanismus schon damals existierte. Dank dieser Belege, im Abgleich mit physiologischen Erkenntnissen der modernen Geweihbildung, lässt sich ein permanentes Geweih als Vorläufer der modernen Geweihe ausschließen. Vielmehr scheint die Abstoßung und Regeneration des Geweihs schon von Anfang an ein Aspekt der Geweihbildung gewesen zu sein. Im Laufe der Evolution der Hirsche scheint der Geweihzyklus sukzessive eine wechselseitig von Sozialverhalten und Fortpflanzungsrhythmus der Hirsche beeinflusste Entwicklung genommen zu haben, die ihrerseits wiederum eine Anpassung an klimatische Veränderungen notwendig machte. Dies ist eine plausible Erklärung, wie es zu der komplexen Geweihentwicklung unter den Hirschen der modernen Welt kommen konnte.
Das Geweih wurde in der Spaltenfüllung Wintershof-West nahe Eichstätt gefunden und 1937 vom damaligen Direktor der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie Prof. Richard Dehm mit Fahrrad und Bahn eigenhändig nach München gebracht.
G. E. Rössner & N. S. Heckeberg